Fürsorgerische Zwangsmassnahmen
Bis 1981 konnten in der Schweiz Menschen »administrativ versorgt« werden. Auf Veranlassung von Gemeinde-, Kirchen- und Vormundschaftsbehörden wurden jahrzehntelang Zehntausende in Erziehungsheime, Trinkerheilanstalten, Armenhäuser, Arbeiterkolonien, Heime für Menschen mit Behinderung, psychiatrische Kliniken, ja sogar in Arbeitserziehungsanstalten und Gefängnisse eingewiesen – ohne vorgängigen Gerichtsentscheid und ohne die Möglichkeit, gegen die Massnahmen rekurrieren zu können. Im Thurgau nahmen vor allem die Arbeitserziehungsanstalt Kalchrain, das Kantonalgefängnis Tobel und die Heil- und Pflegeanstalt Münsterlingen administrativ Versorgte auf.
Wer einen Lebenswandel zeigte oder zu zeigen schien, der von der gesellschaftlich akzeptierten Norm abwich, lief Gefahr, in den Blick der Behörden zu geraten. Jugendliche Unbekümmertheit galt schnell als Arbeitsscheu und Liederlichkeit, allzu forsches Interesse am anderen Geschlecht als Unsittlichkeit oder Hurerei.
Wer nicht jede Nacht zu Hause im eigenen Bett verbrachte, wurde der Vagantität verdächtigt, wer sich jeden Tag ein Bier genehmigte der Trunksucht. Wer die gängigen Verhaltensnormen missachtete »störte« und sollte aus der Gesellschaft vorübergehend entfernt und in einer Anstalt der »Besserung« zugeführt werden. Nur zu oft wurden gegen Personen Zwangsmassnahmen verhängt, die schlicht auf Sozialhilfe angewiesen gewesen wären.
Besonderem Druck ausgesetzt waren junge Frauen, die der Abtreibung, ihrer Sterilisation oder der Adoption eines oder mehrerer ihrer Kinder zustimmen sollten. Die Einweisung in eine Anstalt war für die Betroffenen nicht selten der Beginn eines Leidenswegs, der durch verschiedene staatliche Institutionen führte und nicht enden wollte.
Nach Jahrzehnten des schamhaften Schweigens über ihr Schicksal, erreichten die Betroffenen den öffentlichen Diskurs über das ihnen widerfahrene Unrecht. Im Jahr 2010 entschuldigte sich der Bundesrat bei ihnen für das angetane Leid. 2016 wurden sie durch ein Bundesgesetz rehabilitiert. Es wurde ihnen der Opferstatus zuerkannt und eine finanzielle Wiedergutmachung ausgerichtet.
Fremdplatzierungen
Die Art, wie in der Schweiz bis 1981 Kinder fremdplatziert wurden, stellt eines der düstersten Kapitel der neueren Geschichte dar. Zwar beurteilen viele Betroffene ihr Schicksal im Rückblick positiv: Sie hätten es gut getroffen und für das Leben trotz Fremdplatzierung in einem Heim oder in einer Pflegefamilie eine gute Starthilfe bekommen. Viel zu viele wurden aber emotional wie materiell kurzgehalten, gedemütigt und wirtschaftlich ausgebeutet: als Verdingkinder auf Bauernhöfen, wo sie schwere Arbeit leisten mussten und in der Familie trotzdem »das fünfte Rad am Wagen« blieben, oder in stationären Einrichtungen, wo sie den von harten Sanktionen geprägten Erziehungsmethoden des Personals hilflos ausgesetzt waren und auch unter der Hackordnung innerhalb der Kinder- oder Jugendschar selber litten.
Besonders gravierend waren die zahlreich nachgewiesenen sexuellen Übergriffe durch jene, denen die Kinder und Jugendlichen anvertraut waren – Übergriffe, die ganze Leben zerstörten. Für das ehemalige Kinderheim St. Iddazell sind sie mehrfach belegt, bei anderen Thurgauer Kinderheimen nicht ausgeschlossen.
Rückblickend unverständlich ist die unzulänglich gehandhabte Aufsichtspflicht staatlicher Behörden, die sich selten vor Ort ein Bild von den wahren Verhältnissen machten, sondern blind den knappen schriftlichen Berichten der Vormünder vertrauten.
Die Gründe für die Fremdplatzierungen waren vielfältig und oft unausweichlich: der Tod eines oder sogar beider Elternteile, deren Scheidung, eine Alkoholsucht, familiäre Gewalt. Fremdplatzierungen waren aber insbesondere dort höchst problematisch, wo sie sich als Folge von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen gegen die Eltern ergaben.
Die erste Fremdplatzierung war nicht selten der Beginn eines Leidenswegs an mehreren Stationen. Auch ging die unbehauste Kindheit und Jugend manchmal nahtlos in einen Werdegang als administrativ Versorgte oder Versorgter über. Und selbst der Einbezug in Medikamententests blieb unter Umständen nicht aus: dann nämlich, wenn ein Heimkind, das Verhaltensauffälligkeiten zeigte, psychiatrisch abgeklärt wurde. Was scheinbar als Hilfe daherkam, entpuppte sich später oft als zusätzliche Belastung.
Medikamententests
Der Umgang mit psychisch kranken Menschen war jahrhundertelang durch Hilflosigkeit, Brutalität und Spott geprägt. Erst spät entstand eine Psychiatrie. Im 19. Jahrhundert richteten die Kantone Irrenanstalten ein, der Thurgau 1839. Damit kam es zu professioneller ärztlicher Betreuung der Kranken, gleichzeitig aber auch zu deren Ausgrenzung. Nach und nach verschwanden sie aus den Thurgauer Dörfern. Sie lebten jetzt »auf der Seeseite«. Mit dem Euphemismus vermied der Volksmund die offizielle Bezeichnung Irrenanstalt.
Zwar sorgte der Staat mit einer Reihe grosszügiger Bauten für die gute Unterbringung der Kranken, liess es später aber am Unterhalt der Bauten und an der ausreichenden Finanzierung der Klinik fehlen. Spätestens als sie mit einem Lattenzaun umgeben wurde, war sie als eigenständiger, auf sich selbst verwiesener Kosmos mit eigenen Gesetzen festgelegt. Die Zahl der Patientinnen und Patienten ging in die Hunderte. Ärzte und Ärztinnen gab es nur eine Handvoll. Das Pflegepersonal war kaum geschult. Die Behandlungsmethoden waren brachial.
Ab den 1950er-Jahren suchte die pharmazeutische Industrie nach Medikamenten für die wirkungsvolle Behandlung von psychischen Erkrankungen. Nachdem der Münsterlinger Oberarzt Roland Kuhn 1956 die antidepressive Wirkung einer Substanz erkannt hatte, kam es ab 1958 zum Siegeszug des Antidepressivums Tofranil der Firma Geigy. Bis 1981 testete Kuhn für die Pharmabranche rund 40 weitere Substanzen. Die Patientinnen und Patienten wurden darüber nicht ins Bild gesetzt. Was anfangs noch im Einklang mit den Anschauungen der Zeit stand, entfernte sich mit den Jahren immer mehr von den wissenschaftlichen und ethischen Standards, namentlich nach der Erklärung von Helsinki 1964.
Nicht zu rechtfertigen war die Verabreichung von Testsubstanzen an Kinder und Jugendliche. Insgesamt erhielten mindestens 3000 Patientinnen und Patienten Testpräparate. In manchen Fällen dürften diese positiv angeschlagen, in anderen aber verheerend gewirkt haben.
Zweifellos trug die Tatsache, dass die Bevölkerung die Klinik als »Seeseite« aus ihrem Bewusstsein verdrängt hatte, mit dazu bei, dass auch die zuständigen Aufsichtsbehörden über die geradezu fieberhafte Münsterlinger Medikamentenforschung hinwegsahen oder sie sogar guthiessen.